Menschlichen Gesellschaften sind bunt, sie bestehen aus einer Vielzahl von Kulturen und speziell von Randkulturen. Überall dort, wo Menschen sich aus welchen Gründen immer zusammentun, entsteht so etwas wie eine eigene Kultur, dies kann die Kultur von Ärzten sein, die sich gegenseitig stützen, oder die von Kindern, die sich über ihre die Lehrer ärgern, oder die ins Abseits gedrängter Menschen, die gemeinsam zu überleben suchen.
Bei all diesen Gruppen habe ich es auch mit Grenzen zu tun. Grenzen sind notwendig, denn Grenzen bieten auch Schutz gegenüber Außenstehenden bzw. Fremden. Grenzen sind jedoch fatal, wenn andere Menschen durch sie gedemütigt werden sollen.
Grundsätzlich allerdings sind Grenzen dann wichtig, wenn Menschen sich zurückziehen oder eine Distanz zu anderen aufbauen wollen, um vor allem psychisch überleben zu können.
So erzählte mir jemand von einem jungen Gutsverwalter auf einem Gutshof eines preußischen Grafen. Die Geschichte spielt in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg. Obwohl Deutschland bereits eine Republik war, herrschten auf diesem Hof noch die alten Sitten, nach denen die Angestellten die Gutsbesitzer noch mit ihrem Adelstitel unterwürfig ansprachen und auch sonst sich sehr ergeben zeigten. Dies gefiel dem Herrn aus dem Westen, der ein überzeugter Republikaner war, nicht. Schweigend und abschätzig betrachtete er die Ergebenheitsgesten der Dienstleute. Der Gräfin fiel seine innere Distanz zu ihnen auf. Bei Gelegenheit fragte sie ihn, warum er sich gegen sie und ihre Formen derart sperre. Der Mann antwortete bloß: „Ich bin fremd hier und bitte, es bleiben zu dürfen“. Er durfte es. Der Mann wollte seine Grenze und man beließ sie ihm auch. Ähnlich verhält es sich bei Sandlern, den Vagabunden der Großstadt, die gegenüber dem „guten Bürger“ ihre Grenze wollen.
Grenzen können also spannend sein und sie schaffen Kultur. Das Niederreißen von Grenzen um so etwas wie eine einheitliche Kultur zu schaffen, war stets äußerst problematisch, in der Französischen Revolution genauso wie im kommunistischen Russland und im Nationalsozialismus.
Liberale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie Grenzen und damit auch Randkulturen zulassen.
Mit Randkulturen will ich mich nun näher beschäftigen.
Menschen in Randgruppen bzw. Randkulturen sind zu einem Handeln miteinander verbunden, das gemeinhin vom "braven Bürger" als kriminell, lasterhaft, liederlich, als "unanständig" oder „fremdartig“ empfunden und bezeichnet wird.
So ein „anderes“ Handeln reicht von den gegen die formalen Gesetze verstoßenden Aktivitäten krimineller Randgruppen, wie der von Schmugglern und Wilderern, bis hin zu den Lebensformen von Stadtstreichern und Angehörigen fremder Religionen usw.
Ich finde den Begriff "Randkultur" geeigneter als den der "Subkultur", da in diesem von einer sozialen Unter- bzw. Überordnung von Menschen ausgegangen wird. Der Begriff "Randkultur" bzw., "Randgruppe" bezieht sich dagegen auf die Gleichrangigkeit der Menschen, die allerdings an den "sozialen Rand" gedrängt sind oder sich selbst in diesen hinein manövriert haben - aus welchen Gründen immer.
Die folgenden Kapitel überschneiden sich z. T. mit anderen Kapiteln dieser Webseite. Sie bauen u.a. auf diesen meiner Bücher auf:
1980 : Vagabunden in der Großstadt – teilnehmende Beobachtung in der Lebenswelt der Sandler Wien, Stuttgart
1998 : Wilderer Rebellen in den Bergen,2.Aufl. Wien.
2000 : Randkulturen: Theorie der Unanständigkeit, Wien
2001: Okrajove Socialni Kultury, Brno (Übersetzung des Buches „Randkulturen – Theorie der Unanständigkeit“, Wien, Böhlau,1996) Herausgegeben von Dr. Martina Urbanova von der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brno. Die Übersetzung besorgte Mag. Martin Smejkal
2004 : Der Strich – Soziologie eines Milieus (erweiterte Neuauflage), Wien – Münster
1980 : Polizei Alltag: Strategien, Ziele und Strukturen polizeilichen Handelns, Opladen (Westdeutscher Verlag).
1983 : Der Adler und die drei Punkte die gescheiterte kriminelle Karriere des Ganoven Pepi Taschner (Ein Bild aus der Wiener Szene der Kriminalität des verbotenen Glücksspiels und der Prostitution)
1984 : Die Prostituierte und ihre Kunden, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2.
1986 : Subkultur der Kriminalität und Gefängnis, in: Gewalt im Gefängnis, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Bd 3O.
1986 : Alibikrügerl und Pomatschka Alkoholkultur und Alkoholbeschaffung bei Sandlern und Gefängnisinsassen, in: Hessische Blätter für Volks und Kulturforschung, N.F.2O.
1992 : Die Kämpfe der Fußballfans Zur Kulturanthropologie von Raufbolden (Hooligans), in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Nr.3. S 91ff.
2004 : Der Strich – Soziologie eines Milieus (erweiterte Neuauflage), Wien – Münster
1992: Ehre in kriminellen Randgruppen und im Gefängnis L'onore nei gruppi marginali criminali e nel carcere, in: Sociologia dell'onore, Annali di Sociologica, 7 1991 II, Trento, S 267ff.
2004 : Hacker – Diebe und Spione, in : Kriminalpolizei, Fachzeitschrift der Vereinigung österreichischer Kriminalisten, Nr. 2-3, Wien.
2016 : Allerhand Leute - Rinderzüchterin, Prinz, Bordellbesitzer, Philharmoniker, Landarzt, Wirtshausmusiker, Fährmann. Wien – Böhlau
2015 : Die Landler in Rumänien. Lit-Verlag . Münster u- Wien
2018 : Rotwelsch – die alte Sprache der Diebe, Dirnen und Vagabunden, 2. Aufl. Böhlau)
Aufbauend auf der Literatur und meinen eigenen Forschungen habe ich vier Typen von Randkulturen entwickelt, die freilich nur "ideale" Typen sind, denn tatsächlich überschneiden sich einige.
Randkulturen dieses Typus bieten den Menschen Schutz und Rückzug an, wie z.B. die Randgruppen der Vagabunden, der Gefangenen, aber auch jener, die sich ins gesellschaftliche Abseits gedrängt sehen, wie zum Beispiel die der Drogensüchtigen.
Zur genauen Ausführung hier klicken!
Darunter verstehe ich Randkulturen, deren Mitglieder sich gegen bestehende Systeme auflehnen, entweder weil sie diese zu ändern versuchen oder sich auf altes Recht berufen. Zu denen, die etwas ändern wollen gehören jugendliche politische Gruppen, die mit Gewalt gegen Herrschaftsinstrumente vorgehen, und zu denen, die sich auf altes Recht berufen gehören die Bauernburschen in den Alpen, die es als Wilderer nicht zulassen wollen, dass man ihnen das alte Recht der Jagd verwehrt. Als Rebell ist er kein Ideologe, wie der Revolutionär, sondern beruft sich eben auf "altes Recht". Auch Jugendgruppen gehören hierher, die durch Manöver der Gewalt, durch laute Späße u. ä. auf sich aufmerksam machen wollen, wie eben auch Gruppen von Fußballfans.
Diese Randkulturen sind in gewisser Weise identisch mit den "Kulturen der Ganoven", die auf einer alten Geschichte aufbauen, die bis in das Mittelalter zurückgeht.
Charakteristisch für diese Randkulturen ist, dass deren Mitglieder Tätigkeiten nachgehen, die von Gesetzes wegen entweder verboten sind, wie zum Beispiel der Schmuggel, oder die gesellschaftlich als unanständig oder verpönt diskriminiert werden, wie eben die Prostitution.
Hierbei handelt es sich um Randkulturen, deren Mitglieder durch Zugehörigkeit zu einer Sprache oder Kulturgemeinschaft, wie einer religiösen Gruppe oder einer Großfamilie, miteinander verbunden und aneinander gebunden sind. Dazu gehören Gruppen von Roma, Juden, Griechen, Italienern, Armeniern und ähnliche ethnische Gruppierungen. Als Vertriebene, Flüchtlinge oder Emigranten suchen sie zueinander Kontakte, um mit Geschick in Würde zu überleben, wie zum Beispiel die "Landler" in Rumänien, die unter Maria Theresia wegen ihres protestantischen Glaubens aus Österreich nach Siebenbürgen verbannt wurden.
Solche Gruppen entwickeln bisweilen ausgeklügelte Strategien, um in einer ihnen feindlichen Welt wirkungsvoll zu überleben, einer Welt, die sie eben als "unanständig" oder ähnlich interpretieren, weil sie eine deutlich andere Kultur weitertragen, die eine Grenze zu den Menschen in Rumänien darstellt.