Geboren wurde ich während des letzten Weltkrieges, am 31. Mai 1941 in Wien Ottakring. Meine Mutter Leopldine geb. Kunerth, die knapp vor meiner Geburt zum Doktor der Medizin promoviert worden war, soll sich sehr über meine Ankunft gefreut haben. Ebenso mein Vater Dr. Roland Girtler, der sich damals als Militärarzt mit seiner Division in Polen befand, die bald nach meiner Geburt den unseligen Befehl bekam, Russland anzugreifen. Mein Bruder Dieter erblickte im Jahr darauf und zwar am 17.12. 1942 ebenso in Wien Ottakring das Licht der Welt. Er hat es zu einem tüchtigen Professor für Tiermedizin gebracht. Ich fühlte und fühle mich ihm stets verbunden. Er ist ein nobler Herr mit humanistischer Gesinnung, ganz im Stile unserer beiden Eltern. Zu uns beiden gesellte sich 1949 unsere Schwester Erika, die vor allem von meinem Vater, dem Gemeindearzt von Spital am Pyhrn über alles geliebt wurde. Sie studierte Medizin und heiratete den Arzt Dr. Bernd Griesmeier, der in Irdning im Ennstal bei seinen Patienten höchst geachtet war.
Mit vollem Namen heiße ich Roland Leopold Erich. Roland heiße ich nach meinem Vater, Leopold nach meiner Mutter und Erich nach dem Verlobten meiner Tante Tontschi: Erich Schiffrer. Dieser wurde als Luftwaffenoffizier der Deutschen Wehrmacht 1940 über Norwegen abgeschossen. Er überlebte den Absturz als Pilot nicht. Er hätte mein Taufpate werden sollen. Begraben ist er am Soldatenfriedhof in Trondheim in Norwegen.
Das Schicksal meines Onkels ist typisch für viele junge Männer dieser Generation, sie mussten in den Krieg, ob sie wollten oder nicht. Sie glaubten, für ihre Heimat kämpfen zu müssen. Man hatte ihnen vieles eingeredet, so, dass es verschiedene Rassen der Menschen gebe, wobei die einen besser seien als die anderen. Dieses Denken führte schließlich zur Vernichtung von Menschen. Meinem Vater und auch anderen war dieses Denken zutiefst zuwider. Darüber will ich später noch erzählen. Durch diesen Krieg wurden Familien zerstört, Väter, Brüder, verlobte und verheiratete Männer fielen an der Front. In der Heimat warteten Frauen, Mütter und Väter vergeblich auf ihre Männer und Söhne.
Auch um meinen Onkel Erich Schiffrer weinte meine Tante Tontschi, die bis zu ihrem Tod, sie starb hochbetagt, noch immer gehofft hatte, dass er doch noch zurückkehrt.
Die Mutter meines Onkels konnte ebenso nicht glauben, dass ihr Sohn im Krieg blieb. Bis zu ihrem Tod standen seine Ski in der Tabaktrafik, die sie innehatte. Man hatte das Gefühl, sie wartet auf ihren Sohn, der irgendwann einmal erscheinen wird, um seine Ski zu holen.
So sah Onkel Erich aus in seiner Uniform der Deutschen Luftwaffe.
Ich will dieses gefallenen Onkels hier gedenken.
Aus dem Internet erfuhr ich, dass er Pilot einer Ju 52 war, so wurden jene Kriegsflugzeuge genannt, die in den Junkers Flugwerken in Dessau gebaut wurden. Sie wurden vor allem für den Transport eingesetzt, aber auch um über feindlichem Gebiet Bomben abzuwerfen.
Das Flugzeug, das mein Onkel pilotierte sah nach dem Abschuss so aus, wie aus dem Internet zu erfahren war:
8.Staffel II./KGzbV 1 WNr.5820 1Z+GS 14.4 1940
Because of the allied landing at Åndalsnes, and the immediate danger of them to join retreating Norwegian forces, Hitler ordered the railway junction at Dombås to be occupied by paratroopers. Fifteen Ju 52's took off from Fornebu at 17:00. The weather was very bad. They were met by heavy ground fire when they reached Dombås.The pilot Ltn. Erich Schiffrer was hit in the head and died. Uffz. Günther Schneider (KIA). Oberfw.Heinrich Beckmeier, Uffz.Johannes Lommert and Flgr.Philip Roth were captured. None of the men onboard managed to bail out. Eight of them were badly wounded. Eight paratroopers of I./FJR became POW's. Jäger Stefan Roth (KIA).
© photo via morten moe
Ju 52 1Z+CC at Galterud
(Quelle: https://ktsorens.tihlde.org/flyvrak/dombaas2.html)
Ich konnte das Grab von Onkel Erich über das Internet, ausfindig machen. Er ist am Soldatenfriedhof in Trondheim begraben.
Meine Studentin Dr. Michaela Frank, die in Norwegen als Universitätslehrerin tätig war, suchte auf meine Bitte hin in Trondheim das Grab Onkel Erichs auf und stellte ein paar Blumen auf dieses. Onkel Erich sei hier in Ehren gedacht. So schaut das Grab mit den Blumen von Michaela Frank aus:
Michaela Frank bin ich für ihren Freundschaftsdienst sehr dankbar. Dies ist der Kriegerfriedhof in Trondheim, Norwegen, auf dem das Grab Onkel Erichs sich befindet. Hier kann man seiner in Ehren gedenken.
Auch mein Onkel Wolfgang, der Bruder meines Vaters, überlebte den Krieg nicht. Er ist wahrscheinlich in den letzten Kriegstagen in Russland gefallen. Er hinterließ seine Frau Resi, die hübsche Tochter der Gastwirtsfamilie Zöls in Windischgarsten. Mein Onkel hatte sich in sie verliebt, während er mit meinen Großeltern und meinem Vater auf Sommerfrische in Windischgarsten weilte.
Mein Onkel war ein Gegner des Krieges, daher hatte er sich eine Zeit bemüht, dem Irrsinn des Krieges zu entkommen, allerdings erfolglos. Mein Onkel hatte einen Sohn, meinen Cousin Wolfram, auch er wurde 1941 geboren. Er dürfte sehr darunter gelitten haben, dass er ohne seinen Vater aufwuchs. Seine Mutter hatte wieder geheiratet. Wolfram beging an seinem 21. Geburtstag in Wien Selbstmord.
Meine Großmutter starb gegen Ende des Krieges durch amerikanische Bomben in Wien Döbling. Es hatte ihr nichts genützt, dass sie in einem Luftschutzkeller Zuflucht genommen hatte. Mein Großvater, Professor an der technischen Hochschule in Wien, war ein gebrochener Mann, der bis zu seinem Tod 1952 sehr unter diesen Schicksalsschlägen gelitten hat.
Mein Vater Dr. Roland Girtler (geb.1915 in Wien - gest. 1992 in Spital am Pyhrn) hatte 1939 sein Medizinstudium in Wien beendet. Da er sich während des Sommers 1938 auf Sommerfrische in Windischgarsten aufhielt, stellte er sich dort der Musterung. Er wurde der 45. Infanterie-Division, die Großteils aus Oberösterreichern bestand, zugeteilt. Als Militärarzt der Deutschen Wehrmacht hat er viel Unglück gesehen und miterlebt.
Zunächst zog mein Vater mit seiner Infanteriedivision nach Frankreich. Dieser Kriegszug war für die gut ausgerüstete und gut ausgebildete deutsche Armee eine eher unproblematische Angelegenheit. Mein Vater hinterließ über seine Zeit in Frankreich ein dickes Heft mit handschriftlichen Erinnerungen. Mit diesen Erinnerungen im Gepäck unternahm ich 1994 eine Radtour von Österreich nach Frankreich. Ich radelte durch Süddeutschland nach Straßburg, von dort über Verdun und Reims nach Calais und wieder ostwärts nach Paris. Die Beschreibungen meines Vaters erinnern irgendwie an Berichte von einer Urlaubsreise. Mir erzählte er, dass er im Anblick der Kreidefelsen von Dover Wache schieben musste. Dies dürfte ihm wegen der Landschaft gefallen haben. Einmal hatte er Ausgang. Als er in das Lager zurückkehrte, fragte ihn der Wachsoldat nach dem Losungswort. Da er dieses vergessen hatte, nannte er einfach ein paar oberösterreichische Orte wie Kirchdorf; Kremsmünster, Wels, Molln und Windischgarsten. Dies genügte, um ihn als echten Österreicher auszuweisen. Man ließ ihn ungehindert passieren.
Da meine Urgroßmutter, eine geborene Heyraud - Cartier, eine Französin war, lernten meine Großmutter Laurette und ebenso mein Vater Französisch. Daher setzte man ihn beim Frankreichfeldzug als Quartiermacher und Dolmetsch ein. Mein Vater dürfte sich mit den Französinnen und Franzosen bestens verstanden haben, schließlich floss auch in seinen Adern französisches Blut.
Diese französische Herkunft bewog wohl meinen Vater während des Krieges in Frankreich, sich intensiv mit der Geschichte und Geographie dieses Landes unserer Vorfahren zu beschäftigen.
Einige französische Ansichtskarten, die mein Vater damals erworben hat, lockern sein Erinnerungsbuch auf. Ich nahm an der Küste der Normandie seine Ansichtskarten zur Hand und verglich sie mit der heutigen Situation dort. Mir fiel auf, dass auf den alten Karten Häuser zu sehen sind, die es heute nicht mehr gibt. Ich fragte einen Franzosen, dem ich eine dieser Karte zeigte, warum dies so sei. Er erklärte mir, dass diese Bauten von amerikanischen Soldaten zerstört wurden, als sie in der Normandie landeten. Er betonte ausdrücklich, dass dies nicht die Deutschen gewesen seien.
Besonders dürfte meinen Vater das zur Erinnerung an Louis Bleriot bei Calais errichtete Denkmal fasziniert haben. Auch von diesem erwarb er eine Ansichtskarte. Diese Ansichtskarte animierte mich, hier Loius Bleriot (1872 - 1936), dem französischen Luftfahrtpionier, meine Hochachtung zu zollen, schließlich überquerte Louis Blerot am 25. Juli 1909 als erster Mensch den Ärmelkanal in einem Flugzeug.
Auf einer anderen Karte ist die Kirche von Barraques-Plage bei Calais zu sehen.
Zu dieser Karte schrieb mein Vater: "Die Kirche und der Dorfplatz von Les Barraques. In dieser Kirche feierte meine Kompanie die Kriegsweihnacht 1940".
Diese schöne Zeichnung, die meinen Vater als Soldat in Frankreich zeigt und die unser Wohnzimmer ziert, stammt von einer netten Französin, der offensichtlich mein Vater gefiel. Ihr Name ist Elisabeth Payen (vielleicht gibt es noch Nachkommen dieser Künstlerin):
So sah ich 1994 Laon, jenen Ort, von dem aus mein Vater im Mai 1941 an die russische Grenze abkommandiert wurde.
In dem Erinnerungsheft meines Vaters ist zu lesen:
"Am 3. Mai 1941 war unser Abmarschtag von Laon. An einem schönen Frühlingstag wurden wir in Laon verladen. Am Nachmittag kam es zur Abfahrt. Wir sehen auf die schöne Stadt zurück mit der herrlichen Kathedrale und nehmen Abschied von Frankreich, in dem wir. wie wir später bald sehen sollten, sehr schöne Zeiten erlebt hatten. Wir fuhren los und hatten keine Ahnung von dem, wohin es ging, wo wir auf Befehl des Führers eingesetzt werden sollten. Wir fuhren in einem langen Transportzug. Unterarzt Dr. Wimmer und ich in einem Abteil 2. Klasse. Wir richteten uns da gemütlich ein... Die erste Nacht durchfahren wir Belgien, früh waren wir in Aachen. Dann ging es weiter über Hagen, Kassel, Leipzig. Es war ein wunderbares Gefühl auf dieser Fahrt durch Deutschland. Überrascht blieben die Leute, wenn sie unseren Zug sahen, stehen, winkten uns zu, warfen Blumen in die Waggons. Wie wohl tat uns dies, dieses Gefühl, mit dem deutschen Volk fest verbunden zu sein! Deutschland grüßt seine Söhne... Wir winkten fleißig zurück. Dieses Winken war kein Spaß für uns, es war eine Art heilige Verbindung. Dieses Winken hieß; Heil Euch, unsere Soldaten. Und auf der anderen Seite: Es wird schon recht sein, wir werden stets unsere Pflicht tun... Wie wir durch Breslau fuhren, waren wir Wien am nächsten und ich schaute - es war Mitternacht - lange nach Süden, wo die Donau lag und das liebe Heimatland und dachte an meine Familie. Nun wussten wir, es geht nach Polen. Wozu war uns allerdings nicht klar,.., unser vorläufiges Ziel ist Warschau.".
Der Zug führte die Soldaten - wahrscheinlich zu ihrer Überraschung - an die russische Grenze. Mein Vater ließ sich hinreißen, den Krieg, den Hitler beinahe über ganz Europa führte, zunächst als etwas Gottgegebenes zu begreifen. Erst in Russland sah mein Vater den Wahnsinn des Krieges und die Verbrechen gegen die Juden und überhaupt gegen unschuldige Menschen.
Mein Vater beschreibt die weiten Flächen Polens, die Dörfer und ist von der Schönheit Warschaus angetan. Mit diesen Schilderungen beendet mein Vater sein handgeschriebenes "Frankreich - Buch". Fortgesetzt wird dieses durch ein ebenso dickes Notizbuch, dessen Vorder- und Rückseite blau gemustert ist. Auf einem Schild, wie es Schulhefte haben, auf der Vorderseite ist in Kurrentschrift zu lesen: "Russland".
Mein Vater beginnt dieses Buch mit den Worten:
"In Warschau erlebten wir noch im Frühjahr 1941 einen sehr schönen Frühling. Die Bäume standen in herrlicher Blüte, und es wurde im Mai unglaublich warm. Oft ging ich an die Weichsel. Sie bot mit den dahin ziehenden Segelbooten und dem blauen Himmel ein schönes Bild des Ostens. Die weißen Segel erinnerten mich an ein Gedicht Konrad Ferdinand Meyers." Und nun wird es bitterernst für meinen Vater, er schreibt: "Am 27. Mai kam unser Abmarschbefehl. .. Am 27. Mai setzte sich also unsere Kolonne in Bewegung. Ich hatte einen Sitz im großen Autobus des Feldlazarettes. Nachmittags waren wir von Warschau weggefahren. Das erste Mal konnte ich so sehen, welch eindrucksvolles Bild eine Division am Marsch ist. Meldefahrer sausten herum. Die ganze Nacht fuhren wir, zeitweise mußten wir natürlich warten. In der Früh machten wir Rast auf einem großen Rasenplatz, und legten uns in einer Scheune schlafen. Die Gegend war schon ganz das charakteristische Ostpolen. ... Wir marschierten nun immer tagsüber und lagen jeden Tag seitlich der Aufmarschstraße im Quartier. Dieser Aufmarsch war unglaublich imposant und fabelhaft organisiert. Die Benutzung der Hauptstraße war genau eingeteilt... Das war wirklich fabelhafte deutsche Organisation, sie beeindruckte mich unglaublich und überzeugte mich von der Kraft und Macht der deutschen Wehrmacht und der genauen Arbeit des Generalstabes. Unsere vorläufige letzte Station war Zalesi ca 17 km vom Bug und Terespol entfernt. Der Bug war die Grenze zwischen zwischen dem Generalgouverment des Reiches und Sowjetrussland. Bekanntlich hatte ja Deutschland nach dem Feldzug in Polen im Jahre 1939 eine Teilung Polens durchgeführt. Der östliche Teil war Russland zugesprochen worden. Die Grenze war der Bug. Terespol am Bug war die Grenzsstadt. In Zalesie wurde in einem großen Gutsgebäude unser Quartier aufgeschlagen.... langsam rollten die Lafetten und Geschütze dahin. Vor sich hin summend Pfeifen und Zigaretten rauchend saßen die Soldaten im Sattel. Auf ihren Gesichtern sah man einen herrlichen Ausdruck des gelassenen deutschen Soldaten."
Und nun berichtet mein Vater über ein schönes Ereignis: "Am 12. Juni erreichte mich das Telegramm aus Wien; meine Frau hatte mir einen gesunden festen Buben geschenkt. Wie freute ich mich darüber und wie weilten meine Gedanken bei meiner kleinen Familie."
Mein Vater erzählte mir, darüber schrieb er allerdings nichts, dass er an diesem Tag auf den Postwagen gewartet hatte, von dem er annahm, dass mit ihm das Telegramm mit der Nachricht von meiner Geburt gebracht werde. Die Briefe und andere Post wurden verteilt. Doch ein solches Telegramm, wie er es erhofft hatte, wurde ihm nicht ausgehändigt. Als der Postwagen wegfuhr, blickte mein Vater dem Postwagen traurig nach. Da sah er einen Zettel fliegen, der schließlich in einer Pfütze zu liegen kam. Mein Vater ging zu der Pfütze und hob den Zettel auf. Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, dass dieser Zettel aus der Pfütze das Telegramm war, auf das er gewartet hatte. Nehme an, er hat auf unser Wohlsein ein Stamperl Schnaps getrunken.
Mein Vater schreibt weiter: "Am 17, Juni wurde ich zu einer motorisierten Sanitätskompanie versetzt und zum Unterarzt befördert. Wir lagen in einem Zeltlager im Wald von Chetylovo(?)". Mein Vater berichtet von Mücken und Moskitos, aber auch vom Fleckfieber, das in dieser Gegend am Bug um sich griff. Es gab dort ein Krankenhaus speziell für Leute, die Fleckfieber hatten. Mein Vater kam in diesem mit jüdischen Ärzten in Kontakt. Zu seiner Verwunderung sprachen diese ein perfektes Deutsch. Mein Vater berichtet mit größtem Respekt von den dortigen Juden, denen man schließlich übel mitgespielt hat.
Spannend geht es in den Aufzeichnungen meines Vaters weiter:
"Am 21. Juni fuhr Stabsarzt Dietz nachmittags zu einer Führerbesprechung nach Biala Podloska (?). Um 17 Uhr kam er zurück und ließ die ganze Kompanie antreten. Stabsarzt Dietz verlas den Führerbefehl in dem uns die Gefahr des Sowjeteinfalles in deutsches Gebiet vor Augen geführt wurde. Deutschland müsste zuvorkommen und daher in mutigstem Entschluss zuerst selbst angreifen,… Am 22. VI. um X h 15 habe der Angriff zu erfolgen. Unterarzt Dr. Girtler wird als Führer des 1. Zuges dem Regimentsverbandplatz des Infanterieregimentes zugeteilt und hat sich dort um 20h früh (?) zu melden.
Ich packte meine Sachen, fasste Pistolenmunition und Verpflegung. 2 Lastautos standen für meine Leute zur Verfügung. Um 19h30 fuhren wir ab. ich saß im ersten Wagen neben dem Fahrer und erhielt einen Ausweis, damit man mich auch nach vorn durchließ. In Terespol am Bug waren die Straßen mit Matten schon so ausgehängt (??), dass man vom anderen Bugufer nicht unsere Bewegungen beobachten konnte. Wir bezogen Quartier ca. 200 Meter vom Bugufer in einer Hütte. Meine Leute durften nicht viel herumgehen, damit die Russen von unserem Eintreffen nichts erahnen. … Am anderen Ufer war tiefe Stille, man sah schön hin hinüber. Dort lag die Festung Brest Litowsk... man sah keinen Menschen. Um 21 h wurde es dunkel. In den Stuben des Hauses, in dem der Regimentsverbandsplatz untergebracht war, saßen wir beisammen. Am Tisch brannte eine Kerze, da das elektrische Licht ausgegangen war. Es war eine ganz eigenartige Stimmung, die alles umfasst hatte. Ich mußte Schützengräben auswerfen lassen, da wir mit einem direkten Beschuss der russischen Ártillerie rechneten. Ich teilte meine Leute ein. Immer 7 musste die Nacht durch abwechselnd schaufeln, die anderen konnten schlafen. Wir hoben einen langen Spitzgraben aus, ich grub mit einer festen Schaufel ein so tiefes Loch, dass ich mich gerade hinein ducken konnte. Dann setzte ich mich in das Zimmer. Dort waren zwei Ärzte und der Divisionspfarrer. Dieser war der katholische Pfarrer, der uns in Les Baraques in der dunklen Kirche eine so eindrucksvolle Weihnachtsrede gehalten hat. Mich freute es sehr, ihn nun hier kennen zu lernen. Wir sprachen über alles Mögliche, auch über das Eine, das uns vor allem berührte: jetzt war draussen eine laue Frühsommernacht im tiefsten Frieden und in einigen Stunden wird hier Kampf auf Leben und Tod herrschen .Nach Mitternacht mußte ich mich um meinen Krankenkraftwagen umsehen. Da ging durch die Straßen Tarnopols (?) die dem Bug am nächsten waren. Es war ein überwältigender Anblick, der sich uns bot. Überall standen die Stoßtrupps der Infanterie in Bereitschaft, gedämpftes Waffenklirren, leises Geflüster. Nirgends ein Licht, nur die Kerzen (?) leuchteten in ewigem Glanz und eine heilige Ruhe vor dem Kampf hatte auch die ganze Landschaft ergriffen. Da hörte man schwere Schritte und Keuchendes Atmen: die Sturmpioniere trugen langsam Schritt für Schritt ihre Sturmboote zum Bug. Dieses Bild werde ich nie vergessen. Diese entschlossenen Soldatengesichter, die fest gebauten Sturmboote. das Klirren der Spaten und Stahlhelme - und über all dem die geheimnisvolle Nacht. Ein deutsches Heldengeschlecht tritt zum Kampf gegen die Hunnen an, wie schön in alten Zeiten die Nibelungen. Ein jeder ist bereit zum Kämpfen bis zum Letzten. Ich ging zu unserem Verbandsplatz zurück, da sah ich einen großen Wagen, von dem ich mir nicht vorstellen konnte wozu er diene. Ich flüsterte hinauf: wer seid ihr ? Wir sind die Wochenschau, war hier Antwort. Ich war wirklich erstaunt, diese Filmleute mit ihren Tongeräten. gleich zu Beginn des Feldzuges hier vorn zu finden. Diesen Männern verdankt das deutsche Volk die ausgezeichneten Berichte von der Front. Zwei Tage später geriet der tapfere Kameramann Carl in eine russische Maschinengewehrgarbe und ließ sein Leben. Es ist also ein Dienst unter höchstem Einsatz. Natürlich kommt es da sehr auf die Haltung und den Willen des Einzelnen an. Dieser Carl war ein ausgezeichneter Kamerad, leider sind seine letzten Aufnahmen verloren gegangen. Das russische Maschinengewehr hielt alle nieder, die sich nähern wollten. Im Haus des Verbandsplatzes legte ich mich noch nieder und konnte ein wenig schlafen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, alle sprangen auf und ich auch noch halbe schlafend: vor mir stand hoch aufgerichtet der Oberstarzt Dr. Hörmann. Die Kerze am Tisch funkelte. Das Eiserne Kreuz I. Klasse an, das er am Rock trug. Der Oberstarzt gab jedem die Hand. Darin lag für mich eine heilige Verpflichtung: auf uns können sie sich verlassen. wir werden überall unsere Pflicht tun. Zu mir sagte er: "Unterarzt Girtler, Sie haben sich nach der Artillerievorbereitung mit Ihrem Krankenwagen (?) gleich zum Zug zu begeben und werden dort eingesetzt. Dies war ca 10 Minuten vor der X Zeit, die für den Angriff festgesetzt und uns allen bekannt war. Wir löschten die Kerze, schnallten um und traten vor das Haus. Es begann im Osten langsam heller zu werden, tiefster Friede lag um uns, die Grillen zirpten wie immer, reinste Frische einer Sommernacht atmete ich in den Feldern. Ich verteilte meine Männer in den Gräben, dann hockte ich mich in das von mir gegrabene Schützenloch, setzte den Stahlhelm auf und verfolgte auf der Uhr die letzten Minuten. Ich kam mir wie in einem Traum vor. Mein ganzes bisheriges Leben erschien mir als Traum. Mein Wille konzentrierte sich darauf, jetzt unbedingt meinen Mann zu stellen und meine Pflicht als deutscher Soldat zu tun. Komme was da werde.
Besonders unwirklich erschien mir alles, da ja ein so tiefer Friede in der Natur um uns lag.
Endlich rückte der Zeiger auf die X-Zeit. Jetzt war die letzte Minute vorbei, jetzt müsste es losgehen - und da donnerten auch die ersten schweren Artillerieschüsse und stießen über uns zum Feind hinüber. Und dann folgte ein grenzenloses unglaubliches Trommelfeuer. Rot zuckte es ständig am Nachthimmel auf, sank dann und rollte über uns hin und schlug dann donnernd (?) ein. Drüben nicht weit von uns schlugen die Flammen auf. Wir drückten uns tief in die Erde. Die Stahlhelme funkelten immer wieder im Feuerschein der Abschüsse auf. Ich erlebte alles wie in einem Traum. Nun war ich selbst im Krieg".
Weiter beschrieb mein Vater das Leben der Soldaten im Krieg, einzelne Gefechte, die Verwundungen der Leute, er musste Gliedmaßen amputieren, und vieles mehr. Er hatte hart zu arbeiten. Er sagt zu mir oft, ihm war es wichtig, seine Pflicht an den Menschen zu tun. Er hatte auch großen Respekt vor den Russen, die ihre Heimat vor dem deutschen Militär verteidigten. Mein Vater war ein überzeugter Gegner der Todesstrafe. Einmal forderte ihn der Chef eines Militärgerichtes auf, zu bestätigen, dass ein Soldat, der wegen Fahnenflucht zu Tode verurteilt worden war, zurechnungsfähig ist. Mein Vater weigerte sich dies zu tun. Der Verurteilte sei psychisch nicht Ordnung, er sei daher auf keinen Fall zurechnungsfähig, erklärte mein Vater. Der Chef des Militärgerichtes schaute meinen Vater fragend an, er schien meinem Vater nicht zu glauben. Dann fielen dem Vorsitzenden des Militärgerichtes die Schmisse, die mein Vater als Mitglied einer schlagenden Verbindung erhalten hatte, auf. Mein Vater sah auch bei ihm Schmisse. Nun nickte der Offizier. Der Verurteilte wurde nicht erschossen. Ich erzähle diese Geschichte öfter und füge hinzu, dass zumindest einmal Schmisse jemandem das Leben gerettet haben.
Seine "heilige Pflicht" sah mein Vater darin, Menschen zu helfen. So erzählte er mir auch, dass irgendwo in Russland Juden gefangen und in ein Lager gebracht wurden. Eine jüdische Medizinstudentin hatte die Erlaubnis bekommen, die Sanitätsstation aufzusuchen, um Medikamente für ihre kranken Eltern zu holen. Mein Vater und ein österreichischer Sanitäter, der ebenso die Barbarei der Deutschen gegenüber den Juden verurteilte, wollten der jungen Jüdin zur Flucht verhelfen bzw. sie verstecken, um zumindest sie zu retten. Doch die Studentin lehnte ab, sie wolle eher mit ihren Eltern in den Tod gehen, als zu flüchten und sie alleine zu lassen. Mein Vater meinte, als er mir diese Geschichte erzählte, diese Frau habe eine hohe Moral gehabt. Er hatte höchsten Respekt vor ihr.
Mein Vater war immer an der Front, er war ein echter Frontsoldat. Als Militärarzt hatte er gelernt, zu improvisieren. Er war dabei bei den Kämpfen in der Ukraine und um KIew, und schließlich auch bei Moskau. Angeblich war man so nahe von Moskau, dass man in diese Stadt, der Hauptstadt der Sowjetunion, hinein gesehen hat. Irgendwo in einem eroberten russischen Dorf fand mein Vater eine schöne russische Fahne. Statt sie zu vernichten oder einem Kommandierenden der Wehrmacht zu geben, steckte mein Vater diese Fahnen geheim in seinen Tornister. So brachte er sie unbehelligt in die Heimat. In einer Kiste verwahrte er dieses Stück, wahrscheinlich wollte er dadurch seinen Respekt gegenüber den damaligen sogenannten "Feinden" ausdrücken. Tatsächlich hatte mein Vater auch Mitleid mit den Russen, da sie ihm "ja nichts getan hatten". Diese russische bzw. sowjetische Fahne hängt nun in meinem Studierzimmer, wie man an dem Bild sehen kann. Oben auf der roten Fahne steht auf russisch in kyrillischen Buchstaben "Proletarier aller Länder vereinigt Euch". In der Mitte der Fahne ist ein Globus zu sehen. Dieser wird umrahmt von 12 Sätzen, die wohl auch bedeuten "Proletarier vereinigt euch" in den verschiedenen Schriftarten und Sprachen, wie sie typisch für die Sowjetunion waren.
Ich habe diese Fahne einmal einer Russin, sie war Akademikerin, gezeigt. Mich interessierte ihre Reaktion. Diese war überraschend, denn sie war, als sie die Fahne sah, zu Tränen gerührt, ihr imponierte, dass mein Vater und auch ich diese Fahne mit Respekt aufgehoben haben.
Mit welcher Liebe mein Vater an seiner kleinen Familie hing, davon zeugen zwei Bilder, die mein Vater von einem russischen Kriegsgefangenen in Slawuta für meinen Bruder und mich malen ließ.
Das hier zu sehende Bild mit den netten Hunden gehört mir. Auch für meinen Bruder Dieter ließ mein Vater ein solches Bild malen. Mit der Heerespost sandte mein Vater die Bilder samt Brief an meine Mutter.
Zu diesem Bild schrieb mein Vater meiner Mutter dies:
Slawuta 8.4. 1943
"Meine liebe Poldi !
Anbei eine kleine Osterüberraschung für Roli und "Dita". Die Bilder hat mir ein russischer Kriegsgefangener gemalt, ich habe sie bei ihm für meine Kinder bestellt.
Hoffentlich freuen sie sich damit.
Hänge die Bilder über den Bettchen auf.
Nun seid herzlich gegrüßt und Du fest umarmt
von Deinem Roland "
Es gibt ein interessantes Buch über diese 45. Infanteriedivision, der mein Vater angehörte. Verfasst hat dieses der ehemalige Divisionspfarrer Dr. Rudolf Gschöpf, er war Benediktiner und ist in Wien in der Nähe des Praters aufgewachsen. Ich habe mir dieses Buch, das 2002 in einer 2. Auflage erschienen ist, besorgt. Es ist ein gut geschriebenes und gut recherchiertes Buch, das zeigt, was die Soldaten alles mitzumachen und wie sie zu leiden hatten. In diesem ist auch einmal mein Vater erwähnt allerdings nicht mit Namen, sondern bloß als Unterarzt. Auch mein Vater schreibt in seinen Erinnerungen über den Divisionspfarrer. Mit ihm verbrachte er bei Kerzenschein die letzten Minuten, bevor der Angriff auf Russland begann. Seine "Erinnerungen" hören abrupt auf, mitten im Satz. Er schildert, wie ein anderer Arzt auf eine russische Mine gestiegen ist und dabei ums Leben kam. Kurze Zeit später stieg mein Vater selbst auf eine solche Mine. Schwer verwundet überlebte er. Er war nicht mehr einsatzfähig und wurde daher mit einem Verwundetentransport nach Deutschland in die Lüneburger Heide in das Lazarett Soltau gebracht, das in einem Hotel untergebracht war. Mein Vater wurde dort behandelt. Tiefe Narben an seinen Beinen erinnerten an diese Verletzung. Das war 1944.
Gegen Kriegsende, als es ihm schon besser ging, war er Leiter dieses Lazaretts in Soltau. Meine Mutter war froh, dass mein Vater dem Schrecken des Russlandfeldzuges entkommen war, denn die Chance, diesen zu überleben, war sehr gering. Eigentlich hätte er als Arzt in Stalingrad eingesetzt werden sollen und sollte zur großen Schlacht um Stalingrad, bei der viele Österreicher fielen, eingeflogen werden. Da aber in diesen Dezembertagen 1942 mein Bruder zur Welt kommen sollte, erklärte sich ein Freund meines Vaters, der ebenfalls Arzt war, bereit, für ihn in den Kessel von Stalingrad zu fliegen. Mein Vater hat nie wieder von ihm gehört.