In Wietzendorf (1944 bis 1946)  - mit dem Fahrrad in der Lüneburger Heide (1995)

In ihrer großen Liebe fuhr meine Mutter, damals eine junge Ärztin, mit meinem zweijährigen Bruder Dieter und mir, der ich drei Jahre alt war, 1944 von Wien in die Lüneburger Heide, um meinen Vater im Lazarett aufzusuchen. Aus dem ursprünglich geplanten, vierwöchigen Besuch wurden zwei Jahre. In dieser Zeit wurde das Haus, in dem wir in Wien wohnten, von amerikanischen Kriegsflugzeugen bombardiert. Meine Großmutter starb, wie schon erzählt,  bei einem solchen Bombenangriff und auch mein Onkel, der Bruder meines Vaters, fand als Soldat den Tod.

 

Um meinem Vater nahe zu sein, quartierte sich unsere Mutter im nahen Wietzendorf, im Haus des Sattlermeisters Lange, ein, wo wir im ersten Stock zwei kleine Zimmer bezogen. Meine Mutter betätigte sich in Wietzendorf als tüchtige Ärztin, wie ich später erfuhr und soll einen guten Ruf als Medizinerin genossen haben.  Ich habe viele schöne Erinnerungen an Wietzendorf.  Um wieder diesen lieben kleinen Ort zu sehen, machte ich mich vor einigen Jahren mit dem Fahrrad in die Lüneburger Heide auf.  Über diese Radtour, die ich schließlich bis nach Rügen führte, schrieb ich ein ganzes Buch.

 

Mit meiner Schwester, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern mit einem Wohnwagen durch Deutschland und Skandinavien fuhren, hatte ich vereinbart, dass wir uns in Wietzendorf bei der Kirche an einem bestimmten Tag um 11 Uhr treffen.  Wir hatten das so ausgerechnet, dass wir tatsächlich uns zu dem angegebenen Zeitpunkt bei der Kirche einfinden. Damals gab es noch kein Handy. Man musste sich auf das verlassen, was wir uns ausgemacht haben. Das war auch gut so.

 

Ich hielt dazu in meinem Buch fest:

"Als ich mich umsehe, taucht vor mir die alte Kirche von Wietzendorf auf. Es ist knapp vor 11 Uhr. Wird meine Schwester hier sein? Da sehe ich sie schon freudestrahlend auf mich zueilen. Wie geplant ist sie mit ihrem Mann Bernd und ihren beiden Kindern in einem Wohnmobil in Richtung Nordkap unterwegs. In ihrer Begleitung befinden sich Freunde von ihnen, die in zwei weiteren Wohnwagen fahren. Es ist eine richtige Karawane, die da nach Norden aufgebrochen ist und hier in Wietzendorf kurz Halt macht. Meine Schwester will den Spuren der Eltern folgen. Sie wurde, als sie 1949 geboren wurde, zur Erinnerung an das Leben in der Heide Erika genannt, nach der typischen und schönen Blume der Heide. Schon durch ihren Namen hat sie Beziehung zu dieser Gegend, in der sie vorher noch nie war.

Wir begrüßen einander und auch die Freunde von Bernd und Erika freuen sich über dieses Treffen. Sie sind erstaunt, dass ich es mit dem Fahrrad geschafft habe, pünktlich zu kommen.

Wir wandern durch den Ort, ich erzähle, was ich noch aus meiner Zeit in der Heide weiß, von der meine Mutter stets in schönen Worten sprach. Wir gelangen zum Haus von Meister Lange, an das ich mich noch gut erinnern kann, mit seinem schmalen Stiegenaufgang und dem roten Ziegeldach. Erika und ihre Begleiter schauen erwartungsvoll, als ich an die Tür klopfe. Ein junger Mann öffnet, ich stelle mich vor und er sagt erfreut:

„Sie sind der Girtler, das freut mich. Meine Mutter ist da.“ Seine Mutter Ursula, mit der ich als Kleinkind gespielt habe und von der ich auch ein Foto besitze, das uns als kleine Kinder zeigt, tritt zu uns mit den Worten: „Das ist aber schön!“ Ich stelle uns noch einmal vor. Ihr Schwiegersohn, der die Sattlerei des Großvaters übernommen hat, führt jetzt ein Tapezierergeschäft in diesen Räumen und erzählt:

„Von Ihnen habe ich in einem Artikel über die Lüneburger Heide gelesen, in dem wir auch vorkommen.“ Tatsächlich hat ein Student, der meine Vorlesungen besucht hat, auf Grund meiner Erzählung einen Artikel über meine Familie und mich in der Lüneburger Heide zur Zeit des Kriegsendes 1945 verfasst. Dieser Aufsatz erschien in einem Heft, das sich „Soltauer Kalender“ nennt. Der Student erwähnte auch Meister Lange, der uns damals Quartier gegeben hat. Darauf ist die Familie Lange offensichtlich stolz. Die Freude über unseren Besuch bei Ursula, ihrem Sohn und der Schwiegertochter ist ehrlich. Meister Lange ist über 80 Jahre alt, macht aber einen rüstigen Eindruck und auch seiner Frau geht es gut.

Ursula geht mit mir die Stiegen hinauf und die alten Zeiten, die ich als Vierjähriger intensiv erlebt habe, tauchen auf, als sei es gestern gewesen. Hier war die kleine Küche, in der meine Mutter kochte, daneben das kleine Schlafzimmer und auch das Zimmer, in dem mein Bruder und ich spielten. Ich erinnere mich gut an Weihnachten 1945.

Das Christkind hatte für meinen Bruder Dieter und mich je einen kleinen geschnitzten Sessel gebracht. In meinen war ein „R“ für Roland und in den meines Bruders ein „D“ für Dietrich geschnitzt. Diese Sessel gibt es heute noch in unseren Familien, Kinder und Enkelkinder wissen um ihre Herkunft.  Mein kleiner Sessel befindet sich in unserem Haus in Spital am Pyhrn. Heute sitzen meine Urenkel auf diesem.

Anneliese, Ursula, Roli und Dieter in Wietzendorf 1944, hinter dem Haus von Meister Lange
Anneliese, Ursula, Roli und Dieter in Wietzendorf 1944, hinter dem Haus von Meister Lange

Mich erinnert der Sessel an eine weit zurückliegende Zeit, die nun hier im Haus von Meister Lange wieder lebendig wird, wo wir auch das Ende des Krieges erlebten. Ein Bild sehe ich immer wieder vor mir: Ich stehe auf den Stufen vor dem Haus der Langes, der Himmel ist dunkel, voller Flugzeuge, wahrscheinlich englischer, die sich gerade daran machen, Hamburg und Hannover zu bombardieren. Ein deutscher Soldat drängt mich ins Haus, während sein Blick nach oben zu den Flugzeugen gerichtet ist. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt.

 

Leider ist Anneliese, die Schwester Ursulas und meine erste Freundin in Kindheitstagen, nicht hier. Sie lebt mit Mann und Kindern in einem kleinen Dorf bei Bremen. Wir alle, die wir zu Besuch da sind, werden in das Haus und weiter in den Garten gebeten, wo wir an einem runden Tisch, Sessel werden schnell herbei geschafft, Platz nehmen. Jetzt wird erzählt, was alles in den vielen vergangenen Jahren passiert ist. Die Langes sind Urgroßeltern und die einst kleine Anneliese und die noch kleinere Ursula sind ehrenwerte Großmütter. Frau Lange kann sich gut an uns erinnern, besonders an mich, der ich damals 1945 bereits ein großer Lausbub war. Mein Bruder Dieter und ich seien einmal zum Entsetzen der Dorfbewohner nackt durch den Ort gelaufen. Nacktsein war zu jener Zeit nicht üblich und bot Anlass für Entsetzen. Das hat die alte Frau Lange nicht vergessen.

 

In den letzten Kriegstagen wurde meine Mutter sehr krank, daran kann ich mich nur undeutlich erinnern, sie soll Typhus gehabt haben. Mit hohem Fieber wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert,  mein Bruder und ich waren plötzlich, im wahrsten Sinn des Wortes, mutterseelenallein. Unser Vater konnte uns in diesen für uns harten Tagen nicht beistehen, da die Lazarette übervoll waren durch die Brände, die auf Grund der Bombardements der Städte im Norden Deutschlands entstanden waren. Das Ehepaar Lange kümmerte sich wohl um uns, aber das Essen reichte nicht für alle. Daher aßen wir mittags bei einem Bauern, der den hier üblichen Namen Kruse trug. Wir mussten täglich zum Bauern Kruse gehen, um im Vorhaus an einem kleinen Tischchen einen Teller Suppe zu löffeln, oft Hühnersuppe, die mir ganz und gar nicht schmeckte. Mein Bruder und ich waren völlig auf uns gestellt. Niemand brachte uns ins Bett und wir verbrachten den ganzen Tag ohne Aufsicht, mit Ausnahme des Mittagessens. Wohl achtete Frau Lange auf uns, aber sie hatte ja selbst viel mit ihren beiden Mädchen, die uns zu lieben Spielgefährten geworden waren, zu tun. Hinter dem Haus war ein Kaninchenstall und davor eine Schaukel, die mir besonders gut gefiel.

Angeblich hat man von Wietzendorf aus gesehen, wie Hamburg, Bremen und Hannover nach den englischen Luftangriffen lichterloh brannten. In den Dörfern bestand die Pflicht zur Verdunklung, um den Bomberpiloten kein Angriffsziel zu bieten. Die einzigen Fenster, die nicht verdunkelt waren, waren die unserer kleinen Wohnung, in der wir Buben lebten und nicht daran dachten, dass Gefahr vom Himmel drohen könnte.

 

An das Kriegsende habe ich auch Erinnerungen und sehe ein riesiges Zeltlager vor mir, welches hinter Stacheldraht lag und mit dunkelhaarigen Männern bevölkert war. Diese winkten uns Buben oft freundlich zu. Auch uns waren diese Gefangenen sympathisch. Erst später erfuhr ich, dass das Italiener waren, die, nachdem Italien Deutschland die Allianz gekündigt hat, hier interniert worden waren.

 

Mein Vater hat einige von ihnen behandelt. Unter den italienischen Kriegsgefangenen soll auch  Guareschi, der Verfasser der Bücher von "Don Camillo und Peppone" gewesen sein. Vielleicht hat ihn mein Vater behandelt. Möglich wäre es.

Auch an deutsche Panzer kann ich mich erinnern, die in einem Kreis fuhren und auf denen Männer in dunklen Uniformen saßen, wahrscheinlich waren diese Angehörige der Panzer SS. Eine andere Kriegserinnerung bezieht sich auf junge Burschen, die Krieg spielen. Wir, als die Kleinen, mussten die Gefangenen spielen und wurden mit Holzmessern drangsaliert. Alle diese Kriegsbilder leben in meinem Gedächtnis.

Als mein Bruder und ich wieder einmal den Weg vom Haus des Meisters Lange zum Bauern Kruse gingen, stand plötzlich unsere liebe Mutter vor uns. Sie breitete freudestrahlend die Arme aus. Wir blieben stehen, schauten sie an und reagierten völlig konfus. Statt ihr entgegen zu laufen, drehten wir uns abrupt um und liefen weg. Aber nach ein paar Schritten hatte sie uns eingeholt und umarmte uns. Nun ließen wir sie nicht mehr los und folgten ihr in den nächsten Tagen auf Schritt und Tritt, denn wir hatten Angst, dass sie uns wieder verlässt.

Ringelspiel in Wietzendorf - einer der Buben bin ich
Ringelspiel in Wietzendorf - einer der Buben bin ich

Wietzendorf hat bis heute für mich eine besondere Faszination. Mit diesem Dorf in der Heide verbinde ich, trotz allem was passiert ist, eine schöne Kindheit. Es  sind schöne, heiße Tage, an die ich mich gut erinnere, Tage an der Wietze, dem kleinen Bach der durch Wietzendorf fließt und an dem wir im kühlen Wasser spielten.  Auch  erinnere ich mich an einen Schotterteich mit  klarem Wasser bei Wietzendorf. Auch in diesem badeten wir und schauten meinem Vater, wie er in diesen Teich sprang. 

Der Schotterteich bei Wietzendorf, in dem wir badeten
Der Schotterteich bei Wietzendorf, in dem wir badeten

Ich sehe meine Mutter, wie sie mit uns Kindern durch die Heide radelt.

Einmal wanderten wir gemeinsam in einer Gruppe junger Frauen, deren Männer im Krieg oder in Gefangenschaft waren, durch die Heide und machten unter Bäumen Rast um Brote und Sardinen zu essen. Das hat mir geschmeckt und sich gut eingeprägt.

Die Girtler- Buben vor dem Haus des Sattlermeisters Lange, in dem wir wohnten.
Die Girtler- Buben vor dem Haus des Sattlermeisters Lange, in dem wir wohnten.

Mein Bruder und ich hatten den Ruf, Lausbuben zu sein. So höre ich heute noch den Dorfgendarm zu meiner Mutter sagen, er würde uns beide im Spritzenhaus, dort wo die Feuerwehrschläuche hingen, einsperren, damit sie einmal Ruhe von uns habe. Meine Mutter stimmte diesem Vorschlag aber nicht zu.

Die Girtler-Buben in der Heide
Die Girtler-Buben in der Heide

Auch taucht in meinen Erinnerungen mein Vater, den wir damals lange nicht gesehen hatten, wie er in deutscher Stabsarztuniform uns durch eine Blumenwiese, in der wir Buben gerade Blumen pflückten, entgegen eilte. Er lachte herzlich und umarmte uns.

Die Straße von Wietzendorf war unser Spielplatz. Eines Tages fand ich eine schön ziselierte Schere, die ich voll Freude meiner Mutter schenkte. Sie hat sie bis zu ihrem Tode verwendet und heute liegt sie in der Lade meines Schreibtisches. Sie ist mir heilig, denn an ihr hängen viele Erinnerungen.

 

Über diese vergangene Zeit in Wietzendorf rede ich mit Meister Lange, seiner Frau und Ursula. Sie freuen sich, dass ich so an diesem kleinen Dorf hänge und über unseren Besuch. Irgendwann müssen wir uns verabschieden, nicht ohne zu versprechen einmal wieder zu kommen. Meine Schwester Erika, für die sich eine neue Welt öffnete, lädt alle in die Steiermark ein.

 

Man winkt uns noch, ich schiebe mein Fahrrad zum Platz bei der Kirche. Vor der Dorfschenke parken die drei Wohnmobile, in die die Herrschaften nun einsteigen werden, um in Richtung Nordkap zu fahren. Der Besuch Wietzendorfs hat gut in ihr Programm gepasst. Sie essen noch eine Kleinigkeit bei einem Griechen, der sich hier angesiedelt hat und Hotdogs und andere Imbisse verkauft. Die Kulturen vermischen sich: Ein Grieche verkauft amerikanisches Essen an Österreicher, die durch Deutschland nach Norwegen unterwegs sind. Wir verabschieden uns voneinander, dann fahren sie los und ich bin mit meinem Fahrrad und meinen Erinnerungen allein.

Die Abreise aus Wietzendorf - Erinnerungen

Ich radle bei kühlem Wetter aus Wietzendorf hinaus, in Richtung Soltau. Am Ende des Dorfes drehe ich mich um, schaue zurück und werde von einer Melancholie eingeholt, die mir gar nicht angenehm ist. Von hier sind meine Eltern mit uns nach Oberösterreich aufgebrochen, haben von einem neuen Leben als Landärzte in den Bergen geträumt. Ich erinnere mich an den Tag unserer Abreise.  Mein Bruder und ich saßen auf den Stiegen des Hauses von Meister Lange. Einige Kinder Wietzendorfs waren zum Abschied gekommen.  Vor uns stand das Lastauto, das uns nach Österreich bringen sollte.

Abschied von Wietzendorf
Abschied von Wietzendorf

In den Händen hielten wir eine Kinderbibel, die uns Pastor Fündling zum Abschied geschenkt hatte.  An den Pastor und seine liebe Frau denke ich gerne. Bei ihnen waren meine Eltern einige Male zu Besuch. Einmal waren auch wir beide dabei. Es gab eine köstliche Eierspeise, die wir uns schmecken ließen. Vom Haus der Langes führte direkt ein Weg durch einen Park zur Kirche und zum Wohnhaus von Pastor Fündling.

 

Meine Eltern haben Wietzendorf nie mehr besucht. Bald fuhr unser Lastauto aus dem Ort. Vielleicht fiel uns der Abschied schwer, das weiß ich nicht.  Wichtig war uns, dass unsere beiden Eltern bei uns waren. Mein Vater, der ein hochanständiger Arzt war und alle Menschen, egal ob deutsche Soldaten oder Kriegsgefangene, die man ihm brachte, gleich gut behandelte. Man brachte ihm in das Lazarett Soltau auch kranke Gefangene des nahen KZ Bergen-Belsen.  Auch diese wurden von ihm gut behandelt. Einige dieser KZ- Insassen haben nach ihrer Befreiung durch die Engländer bei diesen ein gutes Wort  für meinen Vater eingelegt. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass mein Vater frühzeitig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Mit ihm im Kriegsgefangenenlager der Engländer saß auch Herr Franz Weisskirchner, der uns nach seiner Entlassung öfter besuchte. Von ihm habe ich ein Gedicht, das er meiner Mutter am 15. November, dem Leopolditag, meine Mutter war die Leopoldine, gemacht hat.

 

Viele Jahre später traf ich Franz Weisskirchner wieder. Er war Jurist geworden und im Innenministerium in Wien als Ministerialrat und Chef der österreichischen Bundespolizei tätig. Damals hatte ich die Absicht, eine Polizeistudie durchzuführen.  Er half mir und unterstützte mich großartig dabei, diese Studie durchführen zu können. Ich bin daher der einzige Soziologe im ganzen deutschen Sprachraum, dem gestattet wurde, solange am Polizeidienst teil zu nehmen, wie ich wollte. Dafür sei ihm jetzt noch gedankt. Ich habe ihn sehr geschätzt. Auch taucht in meinen Erinnerungen Herr Doipl. Ing. Kurt Muckernhuber auf, auch er war ein Freund und Corpsbruder meiner Vater.  Als er uns damals in unserem Haus in Wietzendorf besuchte, fiel ihn auf, dass meine Mutter keinen Suppenschöpfer besaß,  sondern  die Suppe mit einem gewöhnlichen Löffel austeilte. Als er wieder einmal erschien, brachte er als Gastgeschenk einen Suppenschöpfer mit. Diesen besitzen wir heute noch. 

An all das erinnere ich mich, wenn ich an unsere Abreise aus Wietzendorf denke.   

Dunkel erinnere ich mich an den Lastwagen, mit dem wir Vier 1946 nach Windischgarsten in Oberösterreich fuhren. Einige Tage waren wir, bei kühlem und trübem Wetter, unterwegs und übernachteten sogar einmal im Gefängnis. Ich lag neben meiner Mutter auf einer Gefängnispritsche. Auch das fällt mir ein, wenn ich in meinen Erinnerungen krame. Ein kleiner gelbbrauner Teddybär war mein Reisegefährte bei dieser Tour im Lastauto. Ständig soll ich ihn an mich gedrückt haben, um bei ihm Trost zu finden, denn die Fahrt war kein Vergnügen. Wir saßen alle vier hinten auf dem Lastauto unter einer Plane, neben uns Möbel und andere Dinge, die sich meine Eltern in Wietzendorf angeschafft hatten.

Meine Mutter überwand den Stacheldraht

Ich stehe neben meinem Fahrrad am Ortsende von Wietzendorf,  die Gedanken an das Leben meiner Eltern in der Heide  lassen mich nicht los. Daher beschließe ich, noch einen Tag in Wietzendorf zu bleiben, wende mein Rad und radle in das Dorf zurück, wo ich zur Kirche komme. Hier war das Pfarrhaus.

 

 In der Dorfschenke nehme ich mir ein Zimmer und fahre dann zu den Langes um dem Schwiegersohn mitzuteilen, dass ich erst morgen weiter radeln werde. Ich möchte mir noch die Heide um Wietzendorf näher ansehen. Er freut sich und lädt mich ein, am Abend vorbei zu kommen. Ich radle in das ehemalige Militärgebiet und besuche englische und deutsche Kriegsgräber. Vielleicht liegen hier Soldaten, die mein Vater vom Lazarett her kannte oder solche, die mit ihm in Gefangenschaft in Munsterlager, nicht weit von hier, waren.

 

Ich denke auch daran, dass nach der Kapitulation englische Soldaten in unser Haus eindrangen und plündern wollten. Sie suchten nach wertvollen Dingen für den eigenen Gebrauch, wie zum Beispiel Fotoapparate. Mein Vater besaß einen solchen, einen kostbaren Voigtländer, den er noch bis in die 50er Jahre benützte. Mit der Klugheit meiner Mutter hatte niemand gerechnet. Sie legte einfach ein Staubtuch über den Apparat, der auf dem Küchenkastl lag, damit die Soldaten ihn nicht entdeckten. Sie versteckte den Apparat nicht einmal. Überall suchten die Engländer, sogar in unserer Spielzeugkiste, aber nicht auf dem Küchenkastl unter dem Staubtuch.

Mein Vater war meiner Mutter sehr dankbar. Sie überwand auch den Stacheldraht im Gefangenenlager, um meinen Vater mit Speis und Trank Bei den Langes werde ich schon erwartet. Zu meiner Überraschung ist auch Anneliese, meine Freundin aus der Kinderzeit, da. Wir umarmen einander und ein schöner Abend bricht an mit Ursula, Anneliese und ihren Männern.

 

Anneliese ist extra aus einem Ort bei Bremen gekommen, nur um mich zu sehen. Ursula hat sie verständigt. Aus dem Mädchen von einst ist eine liebenswürdige Frau geworden. Wir trinken, erinnern uns vergangener Zeiten und hoffen, einander wieder zu sehen. Ich verabschiede mich sehr herzlich und radle zur Dorfschenke. Dort trinke ich noch ein Bier und gehe dann auf mein Zimmer. 

Im Moor der Heide versunken

Ein Erlebnis in der Lüneburger Heide, das mich fast das Leben gekostet hätte, lässt mich in der Erinnerung nicht los. Mein Vater hatte mit meiner Mutter, seinem Kollegen Dr. Allinger aus dem Lazarett und uns Buben einen Ausflug in die Heide unternommen. Diesem Mannes sei hier besonders gedacht, denn er war für mich lebenswichtig, wie ich gleich erzählen werde.

 

Wir wanderten alle in die Heide, meine Mutter hatte Brot und Käse für eine gemütliche Rast eingepackt, zu der wir inmitten von Heidekraut, Wollgras und unter dürren Kiefern lagerten. Als neugieriger Bub streifte ich umher, ein Löwenzahn, eine sogenannte Pusteblume, hatte es mir angetan. Ich wollte sie pflücken und lief hin, doch als ich meine Hand nach der Blume ausstreckte, machte ich einen Schritt ins Leere. Ich fand keinen Boden, fiel in ein Loch und versank langsam in einer Masse aus Erde und Schlamm. Ich war in das Moor geraten, das hier mit sumpfigen Löchern und kleinen Rinnsalen begann. Todesangst erfüllte mich, ich versuchte Halt zu finden, doch versank immer tiefer, bis mir die verschlingende Brühe schon bis zum Hals stand. Diese Sekunden werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Über mir wucherte das Heidegras, niemand konnte mich sehen. Ich wollte schreien, aber meine Stimme versagte. Plötzlich ergriff mich eine Hand durch das Gras über mir, die mir in dem Moment wie die Hand des lieben Gottes persönlich erschien. Es war die Hand des Herrn Dr. Allinger, der als einziger mein Verschwinden beobachtet hatte. Hätte er mich nicht im Moor versinken sehen und befreit, hätte mich kein Mensch so schnell gefunden, wenn überhaupt.

 

Meine Mutter war furchtbar erschrocken, als Dr. Allinger mich ihr so Moor verschlammt präsentierte. Sie schimpfte gehörig mit mir, bevor ein Lächeln der Erleichterung über ihr Gesicht huschte. Sie reinigte mich mit Wasser und zum Trocknen wurde ich auf die Sprosse der Leiter eines Hochsitzes gesetzt, der an einer Birke angebracht war. Die Leiter des Hochstandes inmitten der Heide  habe ich noch immer vor Augen.

Ich danke dem Herrn Doktor Allinger aus tiefstem Herzen.

Ihm widme ich dieses Kapitel.   Er ist mein Lebensretter,   ich werde ihn nicht vergessen. 

Dr. Allinger mit uns Buben 1945 in Wietzendorf
Dr. Allinger mit uns Buben 1945 in Wietzendorf

Mir wurde das Leben einige Jahre später ein zweites Mal gerettet.  Mein damaliger Lebensretter heißt Paul Flach und auch an ihn muss ich hier denken. Ein freundlicher Herr, der in Spital am Pyhrn wohnte, wo ich aufgewachsen bin. Im dortigen Schwimmbad drohte ich einmal zu ertrinken, weil ich mich, ohne schwimmen zu können, ins tiefe Wasser gewagt hatte und langsam unterging. In letzter Sekunde zog auch er mich ins Leben zurück, ebenso wie Dr. Allinger damals hier in der Heide.

 

Geschlafen habe ich  in der Dorschenke von Wietzendorf, sehr gut. Nach dem Frühstück hole ich mein Rad von Langes, das ich dort abgestellt hatte, was mir sicherer schien als in der Dorfschenke.

Ich verabschiede mich von Ursula, bedanke mich für die freundliche Aufnahme, setze mich auf mein Rad und trete in die Pedale. Auf dem Weg durch Wietzendorf betrachte ich die schönen Backsteinhäuser, ich  verlasse diese kleine Welt, die mit dem Leben meiner Eltern und dem meinen so eng verwoben ist. Es war schön, hier in Wietzendorf  mit  lieben Leuten beisammen zu sein.

Auf einer mäßig befahrenen Straße nähere ich mich Soltau. Hier war das Lazarett, in dem mein Vater in den letzten Kriegstagen gewirkt hat.“

Soweit meine Schilderungen, wie ich sie in meinem Buch über meine Fahrradtour festgehalten habe.  Ergänzend  möchte ich noch hinzufügen, dass meine Eltern, solange sie in Wietzendorf waren,  als Ärzte sich mit viel Sympathie für die Menschen in Wietzendorf eingesetzt haben. Einmal wurde, wie ich in Wietzendorf erfuhr,  zu meinem Vater  sogar ein Hund gebracht, der von einem Auto angefahren worden war. Mein Vater soll den verletzten Hund bestens behandelt haben. Bald sei er wieder gesund  gewesen. 

 

Einige Gegenstände, die  in unserer Wohnung an der Wand  hängen und diese  zieren,  erinnern mich beinahe  täglich an die Zeit in Wietzendorf. Dazu gehören zwei schön bemalte Holzteller, die meine Mutter bei ihrem Abschied von Wietzendorf, wo sie als Ärztin gewirkt hat, von jungen Heidebäuerinnen und Heidebauern zum Geschenk erhalten hat.

 

Auf dem einen Holzteller sind Heideblumen zu sehen.

Auf dem anderen Holzteller sind junge Bauernpaare, manche der Burschen halten Rechen oder Gabeln in den Händen, zu sehen.  Unter diesen ist im Kreis zu lesen:

Wir sind die junge Bauernschaft

Wir sind des Volkes Mark

des Landes Kraft.

Auch ein Aquarell, das ein ähnliches Bauernhaus in der Heide, wie dieses auf dem Foto,  zeigt,  ziert unser Wohnzimmer.

Wietzendorf ist mir also stets gegenwärtig.

Die Fahrt nach Windischgarsten - im Gasthof Zöls

Die Fahrt von Wietzendorf mit dem erwähnten Lastwagen ging, wie schon geschildert,  durch das im Krieg zerstörte Deutschland nach Österreich. In Windischgarsten, wo mein Großvater Dr. Rudolf Girtler sich aufhielt, war Endstation. Mein Großvater bewohnte ein Zimmer im Gasthof Zöls, welches der Familie seiner Schwiegertochter, der Frau meines im Krieg gefallenen Onkels Wolfgang, gehörte. Wohl auf Initiative meines Großvaters konnte auch unsere Familie in diesem Gasthof ein Zimmer  beziehen.  Meine Kindheitserinnerungen an das Leben in diesem Gasthof sind schön. Die alte Frau Zöls war stets freundlich zu uns. zwei Buben, ebenso ihr Sohn, den wir mit Onkel Edgar ansprachen. Er war ein netter und heiterer Mann. Hier und da lud uns mein Großvater im Gasthaus zu ein Paar Würstel mit Saft ein, damals meine Lieblingsspeise.   Zu dem Gasthof gehörte auch eine gut gehende Fleischhauerei.  Bei den Zöls war als Magd eine gewisse Martha angestellt. Diese tüchtige und auch starke Dame führte uns vier - meine Eltern und uns Buben - einmal an einem sonnigen, aber sehr kalten Wintertag mit einem gewöhnlichen Pferdeschlitten nach Hinterstoder. Damals waren die Straßen im Winter oft nicht gestreut, so dass wir mit dem Schlitten  so richtig gleiten konnten.   In Windischgarsten besuchten mein Bruder und ich den Kindergarten, die erste Zeit mit Widerwillen. Wir wollten uns am Anfang dem Kindergarten durch  Flucht entziehen, was uns aber nicht gelang. Damals fuhr mein Vater mit dem Fahrrad fast täglich nach Spital am Pyhrn, um dem damaligen Spitaler Arzt Dr. Seidl beizustehen. Das Schicksal wollte es, dass Dr. Seidl, er war schon alt, 1947 starb. Mein Vater bewarb sich um die Stelle eines Gemeindearztes in Spital am Pyhrn.  Auch ein anderer Arzt bewarb sich um diese Stelle. Man stimmte deshalb im Gemeinderat ab. Auf eine Stimme kam es an, dass mein Vater diese Arztstelle auch bekam. Die Stimme, auf die es ankam, war die eines Kleinbauern in Oberweng, den man wegen seines Berufes als Fassbinder den „Binder“ nannte.  In meinem Buch „Aschenlauge“ schrieb ich über ihn. Er hat mir viel über die alte, nun verschwundene Bauernkultur erzählt.

Darüber ist im nächsten Kapitel zu berichten.

Neue Kontakte zu Wietzendorf

Viele Jahre sind verflossen, seit wir Wietzendorf verlassen haben, um in Österreich unsere alte und neue Heimat zu finden. Jedoch in Gedanken kehrte und kehre ich immer wieder nach Wietzendorf zurück. 1974 fuhr ich mit meiner gütigen Frau Birgitt und mit meinen beiden Kindern Roland und Heidrun, beide waren noch Volksschulkinder, durch die Lüneburger Heide nach Wietzendorf. Wir suchten die Familie des Meisters Lange auf. Ich freute mich, Anneliese und Ursula nach all den Jahren wieder zu sehen. Schließlich stattete ich, wie ich oben berichtet habe, mit dem Fahrrad Wietzendorf einen Besuch ab. Eine interessante Beziehung zu Wietzendorf entstand durch meinen Freund und Verleger einiger meiner Bücher Dr. Wilhelm Hopf. Die Mutter von Wilhelm Frau Lydia Hopf kannte Pfarrer Fündling und andere Leute aus Wietzendorf, die sich noch an uns erinnerten. So kam ich in Kontakt mit Herrn Gustav Isernhagen aus Wietzendorf. Gustav Isernhagen, der 1937 in Soltau geboren wurde, ist ein bedeutender Mann, er war Ratsherr der Gemeinde Wietzendorf, dann Bürgermeister des Ortes, er wurde als Abgeordneter für die CDU in den niedersächsischen Landtag gewählt usw. Heute ist Herr Isernhagen Ehrenbürgermeister von Wietzendorf. Er setzt sich für die Pflege des Plattdütschen ein - eine Sprache, die auch ich als Kind gesprochen habe. Hoch anzurechnen ist diesem tüchtigen Herrn, dass er den Heimatvereins Peetshof Wietzendorf e.V. gegründet hat.. Dieser Verein gibt die schöne Zeitschrift „Heidhonnig - Altes und Neues aus Wietzendorf “ heraus. Im Heft 18, 2014, geht Herr Isernhagen in liebenswürdiger Weise auf meinen Brief ein, den ich ihm damals geschrieben habe.

Auf Seite S 25 ff Ist zu lesen, wie der Kontakt zu mir hergestellt wurde, welche Rolle Frau Lydia Hopf dabei spielt und anderes, was zu dem passt, was ich vorher dargetan habe:

 

Gustav Isernhagen

´...dem ganzen Dorf alles Schöne...´

Roland Girtler: Privatgelehrter – Lohnschreiber – Vortragskünstler

 

Im HEIDHONNIG-Heft Nr. 15 hatte Michael Kohlhaas in seinem Beitrag zur medizinischen Versorgung früher in Wietzendorf unseren Blick auch auf die Arztfamilie Girtler gelenkt, die hier 1945 für kurze Zeit gewohnt und gearbeitet hat. Er schrieb:

‚ In den Wirren der ersten Nachkriegsmonate praktizierten sogar insgesamt 4 Ärzte in Wietzendorf, denn unter den vielen Flüchtlingen, die das Schicksal nach Wietzendorf geworfen hatte, befanden sich auch zwei weitere Ärzte: Dr. Roland Girtler, er war in Soltau als verwundeter Militärarzt im Lazarett tätig, das im Hotel „Hamburger Hof“ eingerichtet war. Um ihrem Mann nahe zu sein, hatte seine Frau Leopoldine Girtler, die ebenfalls Ärztin war und einige Wietzendorfer medizinisch betreute, mit ihren zwei Jungen 1944 Unterschlupf bei Sattler Lange im Beekgarten gefunden. So konnte sie ihren Mann anfangs in Soltau, dann nach Kriegsende im Internierungslager in Münster besuchen. Nachdem er aus der Gefangenschaft entlassen worden war, meldete sich die Familie im Oktober1946 aus Wietzendorf nach Wien ab.’ 

Das machte neugierig und es lag nahe, zunächst bei Ursel Zastrow, geb. Lange, zu fragen. Ja, vor einigen Jahren habe Roland Girtler, der älteste Sohn des Arztehepaares, auf der Durchreise noch einmal hereingeschaut, erinnert sich die jüngste Tochter im Hause ‚Sattler Lange’. Und bald danach kam mir ganz unerwartet bei einer Veranstaltung in Hermannsburg Frau Lydia Hopf zur Hilfe. Sie hatte in unseren Jahresheften die Beiträge von Michael Kohlhaas gelesen und war dort auf den Familiennamen Girtler gestoßen, den Namen, den auch ein Freund ihrer Söhne in Wien trägt. Sie sagte die Wiener Adresse zu.

 

Lydia Hopf ist die Witwe des früheren Direktors der Bleckmarer Mission (1950 bis 1978), Friedrich Wilhelm Hopf. Dabei handelt es sich um ein kleines Werk der Selbständigen Ev.-luth. Kirche in unserer Nachbarschaft, das vor allem in Südafrika arbeitet. Als kämpferischer Lutheraner, der seine bayerische Landeskirche wegen deren Anschluss an die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) 1949 verlassen hatte, hielt Hopf in den ersten Jahren seiner Bleckmarer Zeit auch engen Kontakt zu seinem Amtsbruder in Wietzendorf, Ludwig Fündling, der theologisch ähnlich wie er dachte.

 

Im Dezember 2009 schickt Lydia Hopf die Anschrift und schreibt dazu: 

Mein Sohn Wilhelm war gerade am Wochenende wieder in Wien u. hat mit s. Freund Girtler eine Fahrrad-Tour unternommen. – Es wäre schön, wenn wieder eine Verbindung mit Girtler u. Wietzendorf zustande käme.’ 

Die Verbindungen dieser Personen zu Wietzendorf sind vielfältig, denn Wilhelm Hopf jun. ist gemeinsam mit seinem Bruder Verleger in Münster – LIT-Verlag –, des Verlages, der die Dissertation unseres früheren Wietzendorfer Pastors, Dr. Gunther Schendel, ‚Die Hermannsburger Mission im Nationalsozialismus’ als Buch herausgebracht hat (ISBN 978-3-8258-0627-9).

 

Wenige Tage, nachdem ich die Adresse hatte, ging ein Brief an den Universitätsprofessor Dr. Roland Girtler in der Wiener Kirchberggasse ab – natürlich mit ein paar Heften des HEIDHONNIG. Und in den ersten Tagen des Jahres 2010 kam die Antwort: Ja, er sei bereit, seine Erinnerungen für unsere Publikation aufzuschreiben. Darauf warte ich zwar noch, aber was damals dem Brief beilag, füllt bereits mehrere Seiten und macht uns mit einem sehr interessanten und offenbar außerordentlich humorigen und weitgereisten Mann bekannt.

 

Schon die mitgeschickte Visitenkarte enthält vielsagende Hinweise:

Roland Girtler – Doktor der Philosophie – Vagabund – Feldforscher – Experte für Sandler & Sennerinnen, für Dominas & Parrerköchinnen, für Aristokraten und Ganoven. - Scholar in Gottes Weltuniversität – Universitätsprofessor – Privatgelehrter – Lohnschreiber – Vortragskünstler... (auch die Adresse fehlt nicht!)

Wir glaubten, diese Art von Universalgelehrten und Lebenskünstlern sei spätestens mit dem I. Weltkrieg ausgestorben. Eine solche Spezies kann wohl nur in einem kleinen Land wie Österreich überleben. Wie gern würde man den ‚Feldforscher’ einmal begleiten, noch lieber ihn als ‚Vortragskünstler’ in Wietzendorf zu Gast haben!

 

Dem Brief des ‚Experten für Sennerinnen und Pfarrerköchinnen’ lagen zwei Proben bei: ‚Erinnerungen an die Lüneburger Heide’, nach einem Gespräch mit Roland Girtler von Otto R. Braun im Celler Heimatkalender. Der dort Porträtierte meint, das sei etwas oberflächlich geraten. Dennoch sollen hier einige Ausschnitte daraus wiedergegeben werden: 

‚... Dr. Girtler erzählte, wie er in der Lüneburger Heide das letzte Kriegsjahr verbracht hatte.[...] Das war im Jahre 1944, als man daran ging, wegen der Bombenangriffe die Kinder aus den Städten in ländliche Gegenden zu verschicken. So nahm meine Mutter die Gelegenheit wahr, mit meinem 1942 geborenen Bruder Dietrich, heute Dozent an der Tierärztlichen Universität in Wien, und mir, der ich nur ein Jahr älter war, ebenfalls in die Lüneburger Heide zu übersiedeln, um ihrem Gatten nahe zu sein.

 

Da auch meine Mutter Leopoldine Ärztin war, bekam sie die Arztstelle in Wietzendorf. [...] Das war uns natürlich sehr angenehm, waren es doch nur knapp 20 km nach Soltau, so dass wir Vater oft sehen konnten. Auto hatten wir keines, meine Mutter fuhr mit dem Rad, wobei meistens mein Bruder vorne und ich hinter meiner Mutter saß. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass wir bei Sattler Lange... wohnten. Dieser hatte eine Tochter Anneliese, die nur wenig älter war als ich, diese war meine ersten große Liebe. Das Landleben gefiel uns, mein Bruder und ich durchstreiften fleißig die Heide. Einmal wären wir beinahe im Moor versunken, der Arzt Dr. Allinger hat uns rechtzeitig gerettet. In den letzten Kriegstagen erkrankte dann unsere Mutter an Typhus, und wir zwei Kinder waren auf uns allein gestellt. Täglich gingen wir zu Bauer Kruse essen. [...] Wir Kinder hatten uns... in der Lüneburger Heide bereits so eingewöhnt, dass wir das niedersächsische Platt wie Einheimische sprachen. In Österreich, wo es jetzt plötzlich Menschen gab, die sich vom Deutschtum distanzieren wollten, wurden wir unserer Aussprache wegen mitunter als ‚Piefke’ bezeichnet....’ 

Die Erinnerungen an Wietzendorf sind jedenfalls positiv, auch wenn Girtler in dem Text einiges als unrichtig rot markiert hat. Der ärztlichen Tätigkeit von Frau Girtler lag wohl nicht die Übertragung einer Arztstelle zugrunde, sondern in der unruhigen Zeit tat man, was man konnte und was nachgefragt wurde.

 

Den Hergang des Unfalls im Moor ergänzt Dr. Girtler heute so:

´...Meine Eltern machten mit uns beiden Buben einen Ausflug von Wietzendorf aus in die Heide. Eine Torfstecherei ist, glaube ich, dort gewesen. Uns begleitete Dr. Allinger, ein Kriegskamerad meines Vaters. Wir lagen im Schatten eines Strauches. Unternehmungslustig, wie ich heute noch bin, lief ich zu einer Pusteblume, um sie zu pflücken. Als ich bei dieser war, versank ich plötzlich im Moor, hatte dieses wegen der hohen Gräser nicht gesehen. Hätte Dr. Allinger mich nicht beobachtet, hätte man mich wahrscheinlich wegen der hohen Gräser nicht mehr so schnell gefunden. Jedenfalls Herr Dr. Allinger eilte dort hin, wo ich verschwunden war, und zog mich an den Haaren aus dem Moor. Herr Dr. Allinger ist also mein Lebensretter.´

 

Der Abdecker und der Täufling’ ist ein mitgesandter – für den Autor wohl besonders charakteristischer – Beitrag von Roland Girtler in der Wiener Kronenzeitung vom 27. 12. 2009 überschrieben. Der Soziologe und Philosoph trifft sich in einem Wiener Kaffeehaus mit drei Damen, unter ihnen Rebecca Wurian, deren Mutter aus einer alten Abdeckerfamilie stammt. Sie erzählt über Abdecker, Schinder und Wasenmeister, wie sie auch genannt wurden. Oft übten sie auch das Handwerk des Scharfrichters mit aus. Der Schinderhannes (mit Curd Jürgens und Maria Schell verfilmt) stammt aus einer solchen Familie.

Unter den Vorfahren von Girtlers Gesprächspartnerin war Franz Josef Wohlgemuth (1738 bis 1823), der wegen seiner guten anatomischen Kenntnisse von den Bauern im Salzburger Land auch bei Tierkrankheiten herbeigerufen wurde. Er hat ein Büchlein über seine Verrichtungen als Scharfrichter hinterlassen. Was diesen vielseitigen Mann aber für seine Nachkommen beachtenswert machte, war die Tatsache, dass er Taufpate des unehelichen Sohnes einer Strickerin war: Josephus Franziskus Mohr. Nach einer ungewöhnlichen Karriere dieses begabten Kindes lernte der vielseitig talentierte Mann den Lehrer Franz Gruber kennen und schuf mit ihm das wohl in aller Welt bekannteste Lied ‚Stille Nacht, heilige Nacht’. Bei der Christmette 1818 in Oberndorf erklang es erstmals und trat von dort seinen Siegeszug um die Welt an.

 

Und letztlich lesen wir noch den Brief Roland Girtlers vom 5. Januar 2010:

‚Sehr verehrter Herr Isernhagen!

 

Über Ihren lieben Brief samt Beilagen habe ich mich sehr gefreut. Ich erwidere Ihren Brief mit meinen umseitigen Betrachtungen als Radfahrer, der auch die Berge liebt.

Ich sende anbei Bilder aus Wietzendorf, die meinen Bruder und mich im Jahr 1944 bzw. 45 zeigen. Ich erinnere mich noch in Vielem an die Zeit in Wietzendorf, als mein Vater im Lazarett lag und meine Mutter als Ärztin in Wietzendorf tätig war. [...]

Ich freue mich, dass man sich jetzt in Wietzendorf an uns erinnert. Gerne bin ich bereit, einen größeren Bericht zu schreiben für ein Heimatbuch. Ich erinnere mich gern an die Familie Lange, an unsere Kindheitsfreundinnen, an das Kriegsende, als englische Soldaten ins Haus kamen und uns um wertvolle Sachen erleichtern wollten, an das Baden in der Wietze usw. [...]

 

Ich wünsche Ihnen und dem ganzen Dorf alles Schöne

Ihr Roland Girtler’ 

Wir Wietzendorfer danken nun für die guten Wünsche und erwidern sie von Herzen, wenn auch verspätet. Die im Brief genannten ‚umseitigen Betrachtungen als Radfahrer...’ finde ich, als ich jetzt das Blatt noch einmal wende. Zuerst fällt das Foto mit der Unterschrift auf: ‚Girtler mit Dackeline Hera’, aber auch der Text drückt Humor und guten Mut aus - ein Brief zu Weihnachten 2009. Er ist es wert, so meine ich, hier – zugleich schmunzelnd und anerkennend – wiedergegeben zu werden, da er wohl viel über seinen Schreiber und dessen Vorlieben verrät: 

‚Liebe Freundinnen und Freunde sowie liebe vagabundierende Zeitgenossen mit dem Fahrrad und per pedes apostolorum (= zu Fuß wie die Apostel), denen ich auf meinen Wegen begegne!!

 

Wieder einmal vollendet sich ein Jahr und wieder einmal gestatte ich mir in aller Höflichkeit, sowohl in meinem Namen als auch in dem meiner gütigen Gemahlin Birgitt samt Dackeline Hera Xanthippe Walburga zu Weihnachten und für 2010 Heiterkeit und Wohlbefinden zu wünschen. Jenen Mitbürgern, deren Wohlwollen ich in diesem Jahr in Anspruch genommen habe, sei hier gedankt. Jene Mitmenschen, die ich mehr oder weniger grundlos beleidigt habe, bitte ich um gnädige Nachsicht. Zu den freundlichen Leuten, mit denen ich zu tun hatte, gehören alte Landtierärzte, über die ich ein ganzes Buch verfasst habe. Die Idee zu diesem Buch stammt übrigens von meinem Freund Herman Stokkers von der Medikamentenfirma Boehringer. Ihm sei hier gedankt. Aber ebenso meinem Freund Erwin Degelsegger, dem alten Holzfäller und Wildschützen, der mir einiges über alte Viechdoktoren und Sauschneider erzählt hat.

 

Auch in diesem Jahr war ich mit abenteuerlustigen Studentinnen und Studenten in Siebenbürgen. Wir haben alle Hochachtung vor jenen Landlern, den Nachkommen verbannter Österreicher in Rumänien, denen es gelungen ist, ihre alte Bauernkultur weiter zu pflegen. Besonders seien Anneliese und Andreas Pitter in Grosspold bei Hermannstadt bedankt, die uns stets mit offenen Armen aufnehmen und in deren Bauernhaus ich ein prächtiges Quartier habe, von dem der Marsch zum Plumpsclo, dem WC (Wind Closett), beim Misthaufen ein vergnüglicher ist. Kuh, Schweine und Hühner genießen meine Sympathie. Ich hoffe, dass sie noch lange dem alten Hof Leben geben.

Während des Augusts fuhr ich mit meinem Fahrrad über die Pässe nach Kärnten. In Villach zechte ich mit meinem Freund, dem Brigadier Günter Polajnar und seiner Frau Doris. Ich radelte weiter nach Tolmezzo, wo ich in einem freundlichen Gasthaus nächtigte. Weiter trug mich mein edles Fahrrad durch Friaul in Richtung Plöckenpass. Einige Kilometer davor machte ich in Timau (oder Tischlwang) Rast. Ich unterhielt mich hier mit einigen Herren, die neben Italienisch und Friulanisch noch einen alten österreichischen Dialekt sprechen. Hier hörte ich alte Wörter wie ‚ferten’ für voriges Jahr und ‚Irtag’ für Dienstag.

 

Nach der Überquerung des Plöckenpasses radelte ich durch das Lesachtal. Bergauf bergab ging es. Ich kam nach St. Jakob und nach Obertilliach, über den Kartitsch-Sattel gelangte ich ins Drautal. Von Edith und Hermann Walder, meinen edlen Freunden und Sympathisanten von alten Wildschützen, wurde ich in Sillian gastlich aufgenommen. Ich radelte weiter nach Südtirol. Dabei kam ich in einen fürchterlichen Regen. Gänzlich durchnässt fuhr ich zurück nach Sillian zu den lieben Walders. Ich radelte dann noch bis Lienz, wo ich die Eisenbahn bestieg.

 

Am 6. Dezember geriet ich in Matrei in Osttirol, wo ich im Hotel Hinteregger bei der liebenswürdigen Wirtin Katharina nächtigte, unter die Kleibeifs, wilden Burschen mit Masken, Pelzen und großen Glocken, die den Raufhandel zu lieben scheinen. Ich trug ein paar blaue Flecken davon. Angeblich bringt das Glück.

 

Ich wünsche allen meinen Freunden schöne Weihnachten und mit ‚Glück auf’, dem Gruß der Bergleute, das Beste für 2010!

 

Roland Girtler

Einige Passagen in dem Brief sind von seinem Schreiber (für uns!) rot unterstrichen, vor allem die guten Wünsche zum Schluss. Wir danken dafür und haben ihn auf seinem Weg durch Siebenbürgen und die Berge gern – und mit etwas Fernweh – begleitet.

Von den Kindertagen im Wietzendorfer Beekgarten bis zu dem Soziologieprofessor im Wiener Kaffeehaus mit dem ausgeprägten Sinn für einfaches und ursprüngliches Leben, für Wildschützen und Abdecker, aber offenbar ebenso mit einer großen Menschliebe, war es ein langer Weg. Wir danken dem ‚vagabundierenden Zeitgenossen’ dafür, dass er uns Anteil gibt und bitten ihn, seinen Kindheitskontakt noch einmal aufzunehmen – herzliche Einladung!

Soweit der Aufsatz von Herrn Iserhagen, für den ich ihm sehr dankbar bin, schließlich zeigt er an, welch innige Beziehung ich zu Wietzendorf bewahrt habe.  Ich werde den Kontakt weiterpflegen.